N. Kamenov: Global Temperance and the Balkans

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Titel
Global Temperance and the Balkans. American Missionaries, Swiss Scientists and Bulgarian Socialists, 1870–1940


Autor(en)
Kamenov, Nikolay
Erschienen
Cham 2020: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
$ 99.99
von
Felix Frey

Im Jahr 1868 verliess die US-amerikanische Missionarin Zoe Locke ihre neuenglische Heimat und begab sich ins ferne Bulgarien. Dort trug sie in den folgenden Jahrzehnten massgeblich zum Aufbau von Vereinen, Zeitschriften, Kulturangeboten und persönlichen Netzwerken bei, die protestantische Missionare als Plattformen der Temperenzidee nutzten. Es ist schlüssig, dass Zoe Lockes Lebensgeschichte den erzählerischen Auftakt zu Nikolay Kamenovs Zürcher Dissertationsschrift bildet: In Lockes Biografie verdichtet sich das zentrale Anliegen der Studie, die lokale Temperenzbewegung in ihren globalen Verflechtungen zu verstehen. Über den Zeitraum von 1870 bis 1940 untersucht der Autor die Etablierung und Verwandlungen des Temperenzdiskurses im südosteuropäischen Staat.

Kamenov nähert sich dem Thema in sechs Kapiteln (Kap. 2–7), die von einer Einleitung und einem kurzen Schlusswort umfasst sind. In Kapitel 2 widmet sich die Untersuchung der «global consciousness» (S. 50 f.) der Bewegung. Diese habe auf gemeinsamen Äusserungsmustern, weltumspannenden Netzwerken und Kommunikationszusammenhängen, vor allem aber auf dem Glauben die zwingend globale Natur des Kampfs für Abstinenz beruht (S. 22). Dass eine solche globale Ideengemeinschaft überhaupt entstehen konnte, war nicht zuletzt der global agierenden protestantischen Mission zuzuschreiben, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert die wichtigste Trägerin der Temperenzidee war.

Das weltanschauliche Fundament des Temperenzdiskurses verlagerte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer religiösen hin zu einer medizinisch-wissenschaftlichen Auslegung des Problems. Diese Verschiebung äusserte sich auch räumlich: Die Knotenpunkte der Temperenznetzwerke waren nach dem Ersten Weltkrieg immer weniger in den Hochburgen der protestantischen Mission an der Ostküste der USA und immer mehr bei europäischen Sozialreformern wie Auguste Forel zu finden (S. 25).

Die Erläuterungen zur globalen Temperenzbewegung bereiten den Boden für die Vertiefung des bulgarischen Falls. Diesen breitet Kamenov in den folgenden fünf Kapiteln (Kap. 3–7) aus. Kapitel 3 und 4 widmen sich dem religiös geprägten Temperenzdiskurs in Bulgarien (1870 bis ca. 1920, Kap. 3) sowie der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Redens über Abstinenz (ca. 1920 bis 1940, Kap. 4). In den Kapiteln 5–7 werden für den gesamten Betrachtungszeitraum die Rolle von Kindern, Sozialisten und visuellen Darstellungen in der bulgarischen Temperenzbewegung vertieft. Eine Auswahl von zentralen Argumenten dieser fünf Kapitel wird im Folgenden in synthetischer Weise vorgestellt.

Die Ausführungen zur bulgarischen Temperenzbewegung stützen sich auf Archivquellen und insbesondere auf die Analyse von Artikeln aus bulgarischen Temperenzzeitschriften wie Vuzdurzhatel («Der Enthaltsame») oder Borba s alkoolizma («Kampf gegen den Alkohol»). Kamenov betont, dass der bulgarische Temperenzdiskurs nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt an medizinische und sozialhygienische Überlegungen anschloss. Unter Verweis auf Harry Levines Discovery of Addiction (1978) zeigt die Untersuchung auf, wie auch in Bulgarien nach dem Ersten Weltkrieg eine «discursive transition from drunkenness to alcoholism» (S. 110) stattfand, Sünder also in Kranke umgedeutet wurden. Religiöse und wissenschaftliche Tendenzen schlossen sich im Temperenzdiskurs jedoch nicht gegenseitig aus, wie Kamenov hervorhebt. Vielmehr bedienten sich wissenschaftlich orientierte Aktivisten gerne beim moralischen Vokabular der Religiösen, während sich letztere regelmässig auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützten, um die Relevanz alkoholischer Enthaltsamkeit zu untermauern.

Als Gründe für diese epistemische Verschiebung führt Kamenov die verheerenden Folgen der beiden Balkankriege (1912–1913) und des Ersten Weltkriegs an. Angesichts von Tod, Krankheit und Zerstörung hätten Stimmen, die Alkoholabstinenz als ein Mittel zur ‹Regeneration› der Nation darstellten, Aufwind bekommen (S. 151 f.). Diesen Trend begleitete ein regelrechter Boom von Temperenzvereinen im Bulgarien der Zwischenkriegszeit. Insbesondere im Bildungswesen versuchten die Fürsprecher der Abstinenz, ihren Einfluss zu erweitern. Dass die Temperenz als politisch unverdächtig galt, half der Bewegung dabei, in einem zunehmend repressiven Umfeld ihre Plattformen zivilgesellschaftlichen Engagements – insbesondere Lehrer- und Schülerorganisationen – aufrechtzuerhalten. Die Vermutung, dass Sozialisten die Temperenzvereine als einzige «broadbase associational platform available to high school students» (S. 175) in der Zwischenkriegszeit vermehrt unterwanderten, wurde jedoch sowohl von bulgarischen Staatsbeamten als auch von Sozialisten selbst geäussert. Ein unverfängliches Anliegen mit weitaus brisanteren Inhalten zu verbinden, wäre kein Einzelfall und erinnert beispielsweise an die Kopplung von Umwelt- und Nationalbewegungen in der späten Sowjetunion.

Eine Leerstelle der Untersuchung besteht darin, dass sie fast ausschliesslich Äusserungen von Temperenzaktivisten analysiert, während die Wahrnehmungen, Reaktionen und Widerstände ihrer Adressaten weitgehend im Dunkeln bleiben. Die Frage, was eine Geschichte der Alkoholbekämpfung ohne die Stimmen der Alkoholtrinkenden leisten kann und wo ihre Grenzen liegen, wird in der Studie kaum ausgelotet. Es könnte ein fruchtbarer Ausgangspunkt für zukünftige Untersuchungen sein, sich stärker den Adressaten der Temperenzkampagnen zu widmen.

Auf minutiöser Quellenarbeit fussend und in lebendiger Sprache verfasst, ist Global Temperance and the Balkans ein gelungener Brückenschlag zwischen osteuropäischer Geschichte und Globalgeschichte – zwei Forschungsfelder, die nicht immer für ihren regen wechselseitigen Austausch bekannt waren. Das vielleicht grösste Verdienst der Studie liegt aber darin, dass sie einen wichtigen Aspekt des bulgarischen Alltagslebens sichtbar macht, der bisher weitgehend verborgen war. Temperenzvereine waren in Bulgarien keine Randerscheinung, sondern prägten mit ihren Partizipationsangeboten, Zeitschriften und Veranstaltungen den Alltag und die Gedankenwelt weiter Teile der Bevölkerung massgeblich mit. Ganz ohne nationalhistorisches Korsett ist Nikolay Kamenov damit ein wichtiger Beitrag zur bulgarischen Geschichtsschreibung gelungen.

Zitierweise:
Frey, Felix: Rezension zu: Kamenov, Nikolay: Global Temperance and the Balkans. American Missionaries, Swiss Scientists and Bulgarian Socialists, 1870–1940, Cham 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 71-72. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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